Besuch beim Bestseller Autoren Wolf-Dieter Storl

Schon als Kind zog es ihn hinaus in die Natur. Inzwischen hat der im Allgäu lebende Kulturanthropologe und Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl diverse Bücher über Bäume, Kräuter und den Wald geschrieben. Viele davon sind Bestseller. Wir treffen den im sächsischen Crimmitschau geborenen Wissenschaftler, der im Mittleren Westen der USA aufgewachsen ist, an seinem Wohnort – einem auf rund 900 Metern Höhe gelegenen Einsiedlerhof im Westallgäu.

    „Das Wesen der Bäume ist mehr als nur Botanik.“

    Wolf-Dieter Storl

    Der Weg ist so abenteuerlich wie es die Beschreibung vermuten ließ: Man verlässt die Bundesstraße und folgt einer unbefestigten Piste. Ab dem „Durchfahrt verboten!“-Schild sind es noch 15 Minuten Fahrt durch den Wald. Es empfiehlt sich, ein Allradfahrzeug zu nutzen. Schließlich stehen wir vor einem einsam gelegenen Hof mit gewaltigem Dach. Ein Hund bellt. Und wenig später öffnet der Hausherr die Tür. Ein Mann mit langem grauen Haar, der volle weiße Bart reicht ihm bis zur Brust. Eine Mischung aus Gandalf und ZZ-Top. Wolf-Dieter Storl.

    Ein milder Herbsttag, der sich hier auf 900 Metern Höhe „crisp“ anfühlt. „In manchen Wintern werden wir so eingeschneit, dass wir tagelang nicht aus dem Haus kommen“, sagt Storl, der hier mit seiner Frau lebt. Einmal waren sie einen ganzen Monat eingeschlossen. „Man muss sich darauf einstellen.“ Bald feiert Storl seinen 80. Geburtstag. Man sieht ihm das Alter an. Aber mehr beeindruckt der wache Blick, die Klarheit seiner Sätze, seine immer spürbare Liebe zur Natur. Die zeigt sich hier überall: eine Scheune mit Holz für den nächsten Winter. Ein wilder Garten voller Obst und Gemüse. In diesem Sommer hat Hagel einen Teil der Ernte zerstört. „Wir können ja trotzdem mal durchgehen.“

    "„Ich glaube, wir haben unsere Begabung nicht von ungefähr. Es hat mit unserer Lebensaufgabe zu tun.“"

    Wolf-Dieter Storl

    Wir streifen durch den Garten. Besser gesagt: Wir schmecken uns hindurch. Und das ist in Begleitung von Wolf-Dieter Storl ein kulturgeschichtlicher Diskurs. So erfahren wir, dass das Franzosenkraut so heißt, weil es seit den Napoleonischen Kriegen in der Region heimisch ist. Es eignet sich zum Würzen von Suppen. Wir naschen Gurkenkraut, das schmeckt, wie sein Name vermuten lässt. Die vitaminreichen Früchte der Aronia nennt man Apfelbeeren, ihre Bitternoten lassen uns die Gesichter verziehen. Die Blätter des Hirschkolben-Sumach sind länglich, wie gewachst, und ihr Geschmack erklärt, warum man die Pflanze auch Essigbaum nennt.

    Wolf-Dieter Storl lässt die Halme einer Goldrute durch die Finger gleiten. „Es ist das beste Mittel gegen Nierenentzündung.“ Dann hält er uns einen Stengel Helmkraut hin. „Es hat einen bitteren Geschmack, aber eine sehr angenehme, entspannende Wirkung. Wenn ich zu viel am Computer gesessen habe, gönne ich mir eine Messerspitze der getrockneten Blätter.“ Im Englischen nennt man es Mad Dog Scull Cap, Schädeldecke eines tollwütigen Hundes. Kurz bevor wir das Haus betreten, tätschelt Storl eine Salweide wie ein Haustier und bleibt bei einer Birke stehen. „Die habe ich vor ein paar Jahren aus dem Abraum-Container neben einer Baustelle gezogen. Man sieht ihr richtig an, wie dankbar der Baum ist.“

    Das Haus, in dem die Storls leben, ist rund 400 Jahre alt. Die Balken, die hier verbaut wurden, stammen aus dem Zeitalter, als es noch keine Maschinen gab. Grob verarbeitete, überdimensionierte Tragwerke. Wolf-Dieter Storl führt uns eine breite Treppe hinauf, zeigt uns die in einem Zimmer liegenden Welpen seiner Hündin Kira, und bittet uns dann in sein Arbeitszimmer. Ein Raum wie die perfekte Filmkulisse für einen Waldgelehrten. Überall Bücher. In Regalen, in Stapeln, auf Tischen und Stühlen. Ein von Büchern zugewucherter Schreibtisch mit einem 27-Zoll iMac. Christine Storl serviert Kaffee und die ersten Spekulatius des Jahres. Während ihr Mann erzählt, wie er als Kind mit deutscher Herkunft nicht gut genug war für das Baseball-Spiel und dann irgendwann über den Zaun kletterte hinaus in die Wildnis des Mittleren Westens, in den seine Eltern damals ausgewandert waren. „Meine Mitschüler hielten mich für crazy“, lacht der Mann mit dem Druiden-Bart. „Aber ich entdeckte eine neue Welt, kletterte auf Bäume, schlief im Wald, lernte die Pflanzen kennen. Und begann darüber zu schreiben. Schon in der Schule musste ich meine Aufsätze immer vorlesen. Ich glaube, wir haben unsere Begabung nicht von ungefähr. Es hat mit unserer Lebensaufgabe zu tun.“

    Ihm missfällt das mechanistische Weltbild der Botanik

    Wolf-Dieter Storl wollte Botanik studieren, um mehr von den Pflanzen zu verstehen. Aber mit dem „mechanistischen Weltbild“ der Wissenschaften konnte er nichts anfangen. Er interessierte sich nicht für die Leistung der Kapillaren, dass eine Buche mehr Wasser zieht als eine Eiche, nicht für Wirkstoffanalysen. Er begann zu reisen, trampte rastlos durch die USA. Bis ein Freund sagte: Anthropologie – das ist dein Ding. „Und es stimmte. Diese Mischung aus Ethnologie und Kulturwissenschaften fasziniert mich.“ In Mexiko, in Indien und bei den Cheyenne-Indianern lernte er ein anderes Weltbild kennen. „In unserer Kultur sind Pflanzen eher Gegenstände. Die Cheyenne halten Pflanzen für die Manifestation hoher geistiger Wesenheiten. Wenn sie eine Heilpflanze brauchen, wendet sich der Medizinmann an den Häuptling einer Pflanzengruppe, an den Geist der Pflanze, und bitten um Erlaubnis.“

    Auch in unseren Kulturkreisen gab es einst einen solch anderen Zugang zu den Pflanzen. Kräuterfrauen und Druiden, Hexen und Laxnerinnen, die Menschen und Tiere mit Pflanzen und Kräutern heilten. Im Mittelalter glaubten Alchimisten, die Pflanzen seien eine Art Behälter der Tugenden und versuchten, die Seele, den Geist aus der Pflanze zu extrahieren. „Noch heute nennt man Destillate deshalb auch geistige Getränke.“ Wolf-Dieter Storl sagt: „Aber unser Zugang zur Pflanze hat sich total verändert. Unsere Kultur entfernt sich rapide von den unmittelbaren Phänomenen. Wir leben in gedachten Welten, die nicht mehr zugänglich sind für die Sinne. Das verändert uns.“

    Es tut gut, in großer Runde um ein Feuer zu sitzen

    Eigentlich hat der Mensch eine lange, entwicklungsgeschichtliche Verbundenheit mit der Natur. Doch letztere wird immer mehr zu einem Gegenstand, den man per Smartphone checkt. Diese Entfremdung spürt der Mensch nicht sofort. Aber er ahnt, dass es kein guter Geisteszustand ist. „In unseren Natur-Kursen erleben wir, wie groß die seelische Not mancher ist. Nicht selten, nach einem Tag, an dem wir barfuß über eine Wiese gelaufen sind, Blätter von wild wachsenden Pflanzen gegessen haben oder einfach mal für 20, 30 Minuten in der Sonne standen, passiert es, dass Kursteilnehmer abends, wenn wir in großer Runde um ein Feuer sitzen, anfangen zu weinen.“ Und Wolf-Dieter Storl wäre nicht, wer er ist, würde er jetzt nicht noch hinzufügen: „Es tut gut am Feuer zu sitzen. Der Mensch macht das seit etwa anderthalb Millionen Jahren.“ So alt ist die erste Feuerstelle, die man in Kenia gefunden hat.

     

    Für Wolf-Dieter Storl ist der Wald nicht bloß eine Ansammlung von Bäumen. Für ihn ist es der kulturelle Background, aus dem wir Menschen hervorgegangen sind. In seinem Buch „Wir sind Geschöpfe des Waldes“ beschreibt, wie sehr unsere Kultur von dieser Welt geprägt ist, die wir immer mehr hinter uns gelassen haben. Die wir aber jetzt so sehr vermissen. Waldbaden ist für ihn deshalb nicht bloß ein Trend. Er sieht darin den Ausdruck einer wechselseitigen Sehnsucht. In seinem Buch hat er dazu eine sehr hübsche Formulierung gefunden: „Du kannst den Wald verlassen. Der Wald aber verlässt dich nie.“ Willlkommen im neuen Zeitalter des Waldes

    Eine kurze Mythologie der Bäume

    Im Gespräch berichtete Wolf-Dieter Storl davon, dass man sich bei der Meditation unter einer Birke leicht fühle, wohingegen man unter der Erle zu frösteln beginne. Daraus ergab sich die Idee für diese kurze Charakterisierung der Bäume.

    • Die Birke

      Die Birke mit ihrer weißen Rinde ist der Baum der Reinigung und des Neuanfangs. In der keltischen Mythologie verehrte man eine weiße Göttin, die das Licht brachte. Als Maria Lichtmess ist diese Fest verchristlicht worden. Kinderwiegen wurden einst vor allem aus Birkenholz gefertigt, noch heute stellen wir Birken als Mai-Bäume auf und nutzen ihre Zweige in der Sauna. Interessant: Meditiert man unter einer Birke, hat man das Gefühl, leicht zu sein, nach oben gezogen zu werden.

    • Die Erle

      Die Erle weist den Weg in die Unterwelt, in das Holle-Reich. Wer unter einer Erle meditiert, hat das Gefühl erdenschwer zu sein, es zieht einen herab. Danach ist einem oft kalt. Und wenn man später mit anderen um ein wärmendes Feuer sitzt, berichten viele, sie seien in der Meditation fremden Wesen begegnet. Dass man unter einer Erle Naturgeister antrifft, ist nicht ungewöhnlich. Aber für viele heute kaum nachvollziehbar. Unseren Vorfahren war diese Welt nicht verschlossen.

    • Die Eiche

      Die Eiche ist der Baum, der am häufigsten vom Blitz getroffen wird. Blitze waren früher aber nicht bloß elektrische Entladungen, sie symbolisierten die Verbindung zu den Göttern. Weil die Eiche die Kraft hat, den Blitz zu leiten und zu überstehen, versammelte man sich einst darunter zum „Ting“. Hier wurden wichtige Fragen geklärt und mit einem Schlag des Hammers als Entscheidung festgesetzt – daher unser Wort Gesetz. Die Eiche ist aber auch der Mittsommerbaum. Sie steht für Treue, Stärke und nährt mit ihren Eicheln die Tiere.

    • Die Linde

      Die Linde ist der Baum der Lebensfreude. In der Mythologie verkörpert sie die Göttin des Friedens und der Liebe. Im Mittsommer verströmt sie einen wunderbaren Duft, und wenn man sich ihr nähert, summt die Linde, weil abertausende Bienen ihre Blüten umschwirren. Marienstatuen wurden aus dem Holz der Linde geschnitzt. Und noch heute lieben wir es, unter diesem Baum gesellig zu sein. Es gibt viele Orte, die nach der Linde benannt sind, Lindenstraßen und -alleen, und viele Gasthöfe heißen „Zur Linde“.

    • Die Linde

      Die Buche war den Menschen hier einst heilig. Schon Tacitus schrieb, dass die Germanen für ihre Götter keine Tempel errichten, sondern diese in Wäldern verehrten. Weil ihre Rinde sehr empfindlich ist, schützt sich die Buche mit einem dichten Laubdach vor der Sonne. Für andere Pflanzen dringt zu wenig Licht hindurch, deshalb wirken Buchenhaine so sakral. Aus dem Rauschen ihrer Blätter glaubte man das Raunen der Götter zu hören und schnitzte Runen in Buchenstäbe als Interpretationshilfe. Unser Wort Buchstabe hat darin seinen Ursprung. Interessant: Würden wir keine Forstwirtschaft betreiben, wären Buchen hier die dominante Baumart. 

    • Die Linde

      Die Tanne. Einst wurde wenig unterschieden zwischen Fichte, Tanne und anderen Koniferen. Zum Wintermaien holte man sich Zweige der immergrünen Bäume ins Haus, um die Geister des Winters zu bannen. Der Weihnachtsmann ist keine Erfindung der Marketing-Abteilung einer koffeinhaltigen Limonade, er ist der Geist des Winters und trug einen Kranz aus Tannenzweigen. Auch deshalb schrieb man der Tanne eine besondere Verbindung mit der Geistwelt zu. Noch heute stellen wir am Weihnachtstag intuitiv die Krippe unter eine Tanne.

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    ©

    Allgäu GmbH, Erika Dürr

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    Die Autoren

    Susanne Baade und Dirk Lehmann

    Im Expeditionsschiff in die Antarktis und per Helikopter über Australien, Wanderung zu einem Kloster in Nepal und Besuch im Luxushotels in Paris, Trekkings durch Kanada und Achtsamkeitsübungen im Allgäu – zu reisen, zu fotografieren, die Welt zu erzählen: Das ist unser Beruf, unsere Berufung. Lange haben wir als Redakteure namhafter Magazine im Hamburger Verlag Gruner+Jahr gearbeitet, seit einigen Jahren berichten wir nun für das Allgäu aus dem Allgäu. Hier haben wir besondere Menschen kennen gelernt, faszinierende Momente erlebt und eine Natur, die uns immer wieder begeistert. Wir sind dankbar für jedes dieser Abenteuer. Und dafür, dass Sie uns begleiten! Susanne&Dirk

    Mehr zu Susanne und Dirk auf ihrer Website.